Antrag: | EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei - Endlich echte Chancen für Demokratie, Menschenrechte und europäische Integration eröffnen anstatt nun Rechtspopulisten nachzugeben |
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Antragsteller*in: | Jan Schierkolk |
Status: | Geprüft |
Eingereicht: | 19.09.2016, 15:07 |
Ä1 zu A1: EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei - Endlich echte Chancen für Demokratie, Menschenrechte und europäische Integration eröffnen anstatt nun Rechtspopulisten nachzugeben
Antragstext
Von Zeile 1 bis 2:
Den gegenwärtig in manchen EU-Mitgliedsstataten und Parteien öffentlich diskutierten Abbruch, oder auch ein sog. Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche
Von Zeile 29 bis 31:
und/oder verhaftet. Dabei wird auch im großen Stil gegen sonstige regierungskritische Stimmen, BeamteBeamtInnen, AkademikerInnen, etc., vorgegangen. Des Weiteren wird nun offen mit der Wiedereinführung der Todesstrafe geliebäugelt,
Von Zeile 54 bis 56 einfügen:
Der Beitritts-Antrag wurde 1989 abgelehnt. 1996 trat die Türkei als Schritt in Richtung EU-Beitritt als erstes Land schon vor einer Mitgliedschaft der Zollunion bei, was seither für das Land bedeutet, z.B. zahlreiche Einfuhr-Regelungen übernehmen
Den gegenwärtig in manchen EU-Mitgliedsstataten und Parteien öffentlich
diskutierten Abbruch, oder auch ein sog. Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche
mit der Türkei, lehnen wir entschieden ab. Ja, die Idee einer türkischen EU-
Mitgliedschaft ist derzeit unpopulär wie wohl nie zuvor. Und in der Tat, die
Bedingungen für Fortschritte in den Verhandlungen sind momentan denkbar
ungünstig. Das hat mit der innenpolitischen Situation in der Türkei zu tun, aber
auch mit fehlenden Reform-Anreizen und großer Enttäuschung, weil vor Ort längst
niemand mehr daran glaubt, dass das Land je eine faire Beitrittschance hatte.
Nicht zuletzt aufgrund des Beitrittsprozesses hatte die Türkei aber (inkl. unter
AKP-Regierungen) in der Vergangenheit große Anstrengungen unternommen. Er ist
nach wie vor der Referenzrahmen für Dialog und – wo nötig – Kritik. Ihn
einseitig aufzukündigen hieße, ausgerechnet die progressiven Kräfte des Landes
im Stich zu lassen. Gerade deshalb müssen die wahrscheinlich noch lange
dauernden Verhandlungen endlich ehrlich, solidarisch und - ausdrücklich ohne
Abstriche bei den rechtsstaatlich-demokratischen Anforderungen einer EU-
Mitgliedschaft - mit wirklich offenem Ergebnis geführt werden.
Vorweg: Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stehen derzeit unter keinem
guten Stern. Nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15.7.2016 in
der Türkei beobachten viele Menschen in Europa die Situation vor Ort mit großer
Sorge. Der einstige Reformwille der türkischen Regierung in Sachen Rechtsstaat,
Demokratie und Menschenrechten scheint schon lange nachgelassen zu haben.
Präsident Erdoğan verfolgt das Ziel, sein Amt mit immer mehr Macht auszustatten.
Die Presse erlebt Einschränkungen und Repressionen. Ethnische und sonstige
Minderheiten sehen sich unter Druck. Der Friedensprozess mit den Kurden ist
einer dramatischen Re-Eskalation des Konfliktes gewichen. Gewählte Abgeordnete
wurden der Verbindungen zu Terrorismus bezichtigt und ihre Immunität aufgehoben.
Seit dem Putschversuch werden zudem in vielen staatlichen Institutionen bereits
zehntausende vermeintliche UnterstützerInnen der Gülen-Bewegung entlassen
und/oder verhaftet. Dabei wird auch im großen Stil gegen sonstige
regierungskritische Stimmen, BeamteBeamtInnen, AkademikerInnen, etc., vorgegangen. Des
Weiteren wird nun offen mit der Wiedereinführung der Todesstrafe geliebäugelt,
die 2002, nicht zuletzt mit Blick auf den EU-Beitrittsprozess, erst abgeschafft
wurde. Der gescheiterte Putschversuch wurde von Erdoğan selbst gar als
Gelegenheit, staatliche Institutionen noch mehr auf seine Linie zu bringen,
begrüßt. All dies hat eine Annäherung seitens Europas verständlicherweise
erschwert.
Wenn wir einen Dialog führen und Konflikte lösen wollen, müssen wir jedoch auch
die Perspektive unseres Gegenübers sehen: Auf türkischer Seite herrscht auch
außerhalb regierungstreuer Kreise ein großes Befremden über mangelnde Ausdrücke
der Solidarität mit der Türkei während und direkt nach den für viele
traumatischen Erfahrungen des Putschversuches, samt vieler Unschuldiger Opfer,
sowie u.a. der Bombardierung des Parlaments. Dieser Eindruck fügt sich leider
nahtlos ein in die weit verbreitete Wahrnehmung, als Land für Europa oder den
Westen insgesamt bestenfalls eine Partnerin zweiter Klasse zu sein. Diese
Einschätzung speist sich nicht zuletzt auch aus einem ungewöhnlichen und aus
Sicht der Türkei unverdient langen und komplizierten EU-Beitrittsverfahren:
Die Türkei, schon seit 1949 Mitglied des Europarates und seit 1952 der NATO, ist
nach einer offiziellen Beitrittsbewerbung zur Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1959 bereits seit 1963 mit dem Vorläufer der EU
vertraglich assoziiert. 1987 folgte das offizielle Beitrittsgesuch zur
Europäischen Gemeinschaft (EG), obwohl die für davor versprochene Visumsfreiheit
für türkische StaatsbürgerInnen in die damalige EWU, maßgeblich durch die
Regierung Kohl, wieder einkassiert wurde (es sollte nicht das letzte Mal sein).
Der Beitritts-Antrag wurde 1989 abgelehnt. 1996 trat die Türkei als Schritt in
Richtung EU-Beitritt als erstes Land schon vor einer Mitgliedschaft der Zollunion bei,
was seither für das Land bedeutet, z.B. zahlreiche Einfuhr-Regelungen übernehmen
zu müssen, ohne in Brüssel über sie mitbestimmen zu können, und tlw. ohne
umgekehrt EU-Einfuhrprivilegien in Drittländern zu genießen. Mit steigendem
Abstand zum türkischen Militärputsch von 1980, und nicht zuletzt der
Unterstützung der damaligen rot-grünen Bundesregierung, wurde der Türkei 1999
offiziell der Status der EU-Beitrittskandidatin zugesprochen.
Auch in den darauffolgenden Jahren wurden (u.a. auch unter der seit 2002
regierenden AKP) mit Blick auf den EU-Beitrittsprozess wichtige Reform-
Fortschritte erzielt: Z.B. wurden die Frauenrechte im Zivilrecht gestärkt, die
Todesstrafe wurde abgeschafft, Folter verboten, die Versammlungs- und
Demonstrationsfreiheit gestärkt, dem UN-Friedensplan für Zypern zugestimmt (was
die EU nicht davon abgehalten hat, vorschnell nur seine griechische Hälfte als
Mitglied aufzunehmen), der Gebrauch der kurdischen Sprache legalisiert bzw.
gefördert, und das Strafrecht reformiert - auch wenn bei der praktischen
Umsetzung vieler dieser Vorhaben, z.B. im Bereich der Minderheitenrechte, noch
Hürden zu nehmen waren. Erst seit 2005, d.h. 46 Jahre nach dem Beitrittsantrag
in die EWG, und nach der letzten großen EU-Erweiterungsrunde, wird jedoch
überhaupt offiziell verhandelt. Und dabei musste die Türkei neben den von Ihr
selbst zu erfüllenden Beitrittskriterien auch eine bis dato einmalige,
zusätzliche „Prüfung der wirtschaftlichen und politischen Aufnahmefähigkeit“ der
EU, und somit höhere Hürden als jede andere Beitrittskandidatin, akzeptieren.
Der Beitritt, und auch die für ihn nötigen und in den folgenden Jahren weiter
verfolgten Veränderungen, genossen in der Türkei seinerzeit trotz dieser
widrigen Bedingungen laut Umfragen meist hohe öffentliche Unterstützung - was
sich jedoch zunehmend änderte, als führende konservative europäische
PolitikerInnen (allen voran Sarkozy und Merkel) mit zunehmendem Fortschritt der
Gespräche immer aggressiver (teils in der Tat noch vorhandene) Mängel anstatt
Fortschritten hervorhoben. Sie unterminierten einen EU-Beitritt der Türkei
systematisch, z.B. indem sie vermeintliche geographische EU-Mitgliedschafts-
Kriterien ins Spiel brachten, die Idee eines großen, überwiegend muslimischen
EU-Mitgliedslandes mehr oder minder offen in Frage stellten, die Angelegenheit
zum Wahlkampf-Thema machten, und statt eines Beitritts bestenfalls noch von
undefinierten Alternativen wie der sog. "privilegierten Partnerschaft" sprachen.
Währenddessen wurde mit anderen EU-BeitrittskandidatInnen, die in der
Wahrnehmung vieler TürkInnen an ihrem Land „vorbeizogen“ und Mitglied wurden,
oder auch mit nicht-Mitgliedern auf dem Balkan, die mittlerweile Visumsfreiheit
erhielten, vergleichsweise nachsichtig umgegangen.
All dies wurde in der Türkei (wie auch unter türkischstämmigen Menschen
hierzulande) sehr genau registriert. Es schien die lange gehegte Sorge weiter zu
bestätigen, eigentlich von vorneherein keine Chance auf einen EU-Beitritt zu
haben, was in der Folge die Zustimmungswerte für letzteren dramatisch sinken
ließ. Auch die Reform-Anstrengungen der AKP-Regierungen ließen nun Schritt für
Schritt nach, oder kehrten sich seither tlw. ins Gegenteil. Auf Europa muss
Präsident Erdoğan dabei immer weniger Rücksicht nehmen. Grund dafür ist nicht
nur die Tatsache, dass die EU sich zuletzt aus Unvermögen, eine mit ihren
eigenen proklamierten Werten konforme und solidarische Flüchtlingspolitik zu
verfolgen, von ihm abhängig gemacht hat. Es ist auch, und vor allem schon
länger, dass der öffentliche Glaube an eine Chance auf EU-Beitritt, und somit
ein mächtiges Argument für Reformen, angesichts fortlaufender Enttäuschungen und
der Wahrnehmung einer ungerechten Behandlung durch Brüssel, schlicht
abhandengekommen scheint.
Jüngste Äußerungen konservativer Europäischer PolitikerInnen, z.B. aus der
traditionell Türkei-skeptischen österreichischen Regierung, man müsse den
Beitrittsprozess nun abbrechen, wirken wie eine weitere Bestätigung dieser
Wahrnehmung. Im Ergebnis scheinen sich BeitrittsgegnerInnen in Europa und
autoritäre Kräfte in der Türkei darin eingerichtet zu haben, den Mangel an
Fortschritt in den Verhandlungen, jeweils allein der anderen Seite in die Schuhe
zu schieben. Das Ergebnis ist vorhersehbarer Stillstand bzw. für die türkische
wie auch europäische Gesellschaft(en) gefährlicher Rückschritt: Die türkische
Führung wird zunehmend unzugänglich für Kritik und koppelt das Land ab, zum Leid
gerade der vor Ort durchaus vorhandenen progressiven Bewegungen. Unterdessen
können in der EU erstarkende rechtspopulistische Kräfte mit der Auffassung, der
Islam gehöre nicht zu Europa, sich aus dem reichen Fundus der im Fall Türkei
jahrelang durch Sarkozy, Merkel & Co. Raum gegebenen Schein-Argumente bedienen.
Letztere drohen dabei von den pöbelnden Neulingen auch noch den Rang abgelaufen
zu kriegen, weil sie sich um den Flüchtlingspakt zu wahren auch mit berechtigter
Kritik an der türkischen Regierung zurückhalten. Hierbei droht uns allen ein
Teufelskreis, in dem sich Reaktionäre auf beide Seiten, letztlich auf Kosten der
Demokratie in der Türkei wie in Europa, jeweils mit internen Widersachern
überbieten und gegenseitig bestätigen.
Mit seiner Haltung ggü. Der Türkei bringt sich Europa schon lange in
Zwickmühlen, deren Ausgang meist nur die weitere Schwächung eigener
demokratischer Werte, Verstimmung in der Türkei, und letztlich oft sogar beides
bedeuten können. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist neben dem Flüchtlingsabkommen
selbst auch die Frage der Visafreiheit, die Präsident Erdoğan heute mit dem
Bestand des Abkommens, und morgen evtl. mit derzeit inhaltlich völlig
ungerechtfertigten Fortschritten im Beitrittsprozess verbinden könnte. Die
türkische Öffentlichkeit weiß er dabei hinter sich: Das Versprechen der
Visafreiheit wurde ihr ggü. von Europa in all den Jahren schon so oft gemacht
und wieder einkassiert (während sie umgekehrt schon lange für EU-BürgerInnen in
der Türkei gilt), dass sie selbst gegen das sehr handfeste Auftreten Erdoğans zu
ihrer Erreichung nun wenig einzuwenden haben dürfte. Das Dilemma: Hätte er zu
seinen Bedingungen Erfolg in dieser Frage, so wäre dies ein fatales Signal - Die
Visumsfreiheit selbst aber, und damit die Förderung des Austausches zwischen der
Türkei und Europa, wäre sowohl gesellschaftlich wie auch wirtschaftlich schon
lange ein wichtiges und dringend benötigtes Instrument der Annäherung gewesen.
Nun ist sie zum symbolisch aufgeladenen Zankapfel geworden, der den Menschen in
der Türkei entweder wie seit Jahrzehnten weiter vorenthalten wird, oder, falls
durchgesetzt, vom starken Mann Erdoğan als große Trophäe und Bestätigung seines
unnachgiebigen Kurses verkauft werden wird.
Kritik an türkischer Regierungspolitik ist möglich, und derzeit auch sehr nötig.
Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu positivem Wandel beiträgt,
anstatt kontraproduktiv nur Spannungen zu erhöhen viel höher, wenn die Menschen
in der Türkei den Eindruck haben, dass Europa dabei wirklich an ihnen, an
Ausgewogenheit, sowie an ihren eigenen, oft proklamierten demokratischen Werten
gelegen ist. Daher sollten wir auch mit eigenen, europäischen Verfehlungen offen
umgehen, sowie auch im eigenen Interesse alles tun, endlich echte,
ergebnisoffene Gespräche zu führen. Die Türkei ist eines der wichtigsten
Nachbarländer der EU, mit zahlreichen Verbindungen, wirtschaftlich und
kulturell, und nicht zuletzt über all die Menschen mit türkischen Wurzeln, die
auch in Deutschland leben. Konflikte in der Türkei werden zwangsläufig auch
immer uns nahe sein, weshalb wir ein großes eigenes Interesse an einer
demokratischen, rechtsstaatlichen Stabilisierung des Landes, wie sie ein
glaubhafter Beitrittsprozess befördert, haben.
Wir bilden uns zwar nicht ein, dass allein die Haltung der EU über den Zustand
der türkischen Demokratie entscheidet - jedoch kann sie stets ein wichtiger
Faktor sein. Denn ebenso gefährlich wie die Illusion dass die Türkei in ihrem
aktuellen Zustand schon demnächst EU-Mitglied werden kann, ist die Illusion dass
EU-Verhalten an den Entwicklungen vor Ort in den letzten Jahren völlig
unschuldig ist, bzw. dass der Türkei bisher ein fairer und komplett offener
Verhandlungsprozess zugestanden wurde. Deshalb: Stehen wir trotz des erwartbaren
Gegenwindes dafür ein, letzteren endlich wirklich zu wagen, bevor es zu spät
ist. Dies kann nicht annähernd so schädlich sein wie das aktuelle Abrutschen in
einen türkisch-europäischen Dauerkonflikt fortzusetzen, der auf beiden Seiten
nur die Rechtspopulisten stärkt. Selbst ein letztliches Scheitern der Gespräche
wäre nach einem ausdauernden, fairen und echten Versuch besser als unter
aktuellen Bedingungen: Wenn Präsident Erdoğan und die AKP, oder eine andere
türkische Regierung, auch für eine wirklich glaubwürdige und faire
Beitrittsperspektive nicht bereit sind die Bedingungen zu erfüllen, so sollen
sie dies wenigstens vor den Türkinnen und Türken selbst rechtfertigen müssen
anstatt weiter die Schuld auf ein unaufrichtiges oder gar fremdenfeindliches
Europa schieben zu können.
Gerade aus Solidarität mit der Türkei wollen wir – im Ton verständnisvoller für
ihre Erfahrungen, in der Sache aber klar - eben keine Abstriche bei den
demokratie- und menschenrechtsbezogenen Beitrittskriterien machen. Wenn es bei
den Verhandlungen keine Fortschritte gibt, gibt es keine Fortschritte. Dafür
muss man aber auch nicht offiziell Gespräche „aussetzen“ oder „einfrieren“. Vor
dem Hintergrund der aktuellen türkisch-europäischen Spannungen könnte eine
solche, ohnehin eher symbolische Geste leicht eine Dynamik in Gang setzen, die
Gräben vertieft und weitere Brüche nahelegen würde. In solch einem Klima wäre es
auch hierzulande kaum möglich, ausreichend Unterstützung für eine Wiederaufnahme
einmal abgebrochener Verhandlungen zu erhalten. Die Prophezeiung der Zweifler an
der Integration eines mehrheitlich muslimischen Landes in unser großes
europäisches Friedensprojekt könnte sich so vollends selbst erfüllen. Dies, und
all seine schrecklichen Implikationen für die Türkei, wie auch für den Charakter
der Europäischen Union und unser Zusammenleben in Deutschland, zu verhindern,
sehen wir zusammen mit unseren Freundinnen und Freunden vor Ort als unsere
große, gemeinsame Aufgabe. Packen wir sie an.
Von Zeile 1 bis 2:
Den gegenwärtig in manchen EU-Mitgliedsstataten und Parteien öffentlich diskutierten Abbruch, oder auch ein sog. Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche
Von Zeile 29 bis 31:
und/oder verhaftet. Dabei wird auch im großen Stil gegen sonstige regierungskritische Stimmen, BeamteBeamtInnen, AkademikerInnen, etc., vorgegangen. Des Weiteren wird nun offen mit der Wiedereinführung der Todesstrafe geliebäugelt,
Von Zeile 54 bis 56 einfügen:
Der Beitritts-Antrag wurde 1989 abgelehnt. 1996 trat die Türkei als Schritt in Richtung EU-Beitritt als erstes Land schon vor einer Mitgliedschaft der Zollunion bei, was seither für das Land bedeutet, z.B. zahlreiche Einfuhr-Regelungen übernehmen
Den gegenwärtig in manchen EU-Mitgliedsstataten und Parteien öffentlich
diskutierten Abbruch, oder auch ein sog. Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche
mit der Türkei, lehnen wir entschieden ab. Ja, die Idee einer türkischen EU-
Mitgliedschaft ist derzeit unpopulär wie wohl nie zuvor. Und in der Tat, die
Bedingungen für Fortschritte in den Verhandlungen sind momentan denkbar
ungünstig. Das hat mit der innenpolitischen Situation in der Türkei zu tun, aber
auch mit fehlenden Reform-Anreizen und großer Enttäuschung, weil vor Ort längst
niemand mehr daran glaubt, dass das Land je eine faire Beitrittschance hatte.
Nicht zuletzt aufgrund des Beitrittsprozesses hatte die Türkei aber (inkl. unter
AKP-Regierungen) in der Vergangenheit große Anstrengungen unternommen. Er ist
nach wie vor der Referenzrahmen für Dialog und – wo nötig – Kritik. Ihn
einseitig aufzukündigen hieße, ausgerechnet die progressiven Kräfte des Landes
im Stich zu lassen. Gerade deshalb müssen die wahrscheinlich noch lange
dauernden Verhandlungen endlich ehrlich, solidarisch und - ausdrücklich ohne
Abstriche bei den rechtsstaatlich-demokratischen Anforderungen einer EU-
Mitgliedschaft - mit wirklich offenem Ergebnis geführt werden.
Vorweg: Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stehen derzeit unter keinem
guten Stern. Nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15.7.2016 in
der Türkei beobachten viele Menschen in Europa die Situation vor Ort mit großer
Sorge. Der einstige Reformwille der türkischen Regierung in Sachen Rechtsstaat,
Demokratie und Menschenrechten scheint schon lange nachgelassen zu haben.
Präsident Erdoğan verfolgt das Ziel, sein Amt mit immer mehr Macht auszustatten.
Die Presse erlebt Einschränkungen und Repressionen. Ethnische und sonstige
Minderheiten sehen sich unter Druck. Der Friedensprozess mit den Kurden ist
einer dramatischen Re-Eskalation des Konfliktes gewichen. Gewählte Abgeordnete
wurden der Verbindungen zu Terrorismus bezichtigt und ihre Immunität aufgehoben.
Seit dem Putschversuch werden zudem in vielen staatlichen Institutionen bereits
zehntausende vermeintliche UnterstützerInnen der Gülen-Bewegung entlassen
und/oder verhaftet. Dabei wird auch im großen Stil gegen sonstige
regierungskritische Stimmen, BeamteBeamtInnen, AkademikerInnen, etc., vorgegangen. Des
Weiteren wird nun offen mit der Wiedereinführung der Todesstrafe geliebäugelt,
die 2002, nicht zuletzt mit Blick auf den EU-Beitrittsprozess, erst abgeschafft
wurde. Der gescheiterte Putschversuch wurde von Erdoğan selbst gar als
Gelegenheit, staatliche Institutionen noch mehr auf seine Linie zu bringen,
begrüßt. All dies hat eine Annäherung seitens Europas verständlicherweise
erschwert.
Wenn wir einen Dialog führen und Konflikte lösen wollen, müssen wir jedoch auch
die Perspektive unseres Gegenübers sehen: Auf türkischer Seite herrscht auch
außerhalb regierungstreuer Kreise ein großes Befremden über mangelnde Ausdrücke
der Solidarität mit der Türkei während und direkt nach den für viele
traumatischen Erfahrungen des Putschversuches, samt vieler Unschuldiger Opfer,
sowie u.a. der Bombardierung des Parlaments. Dieser Eindruck fügt sich leider
nahtlos ein in die weit verbreitete Wahrnehmung, als Land für Europa oder den
Westen insgesamt bestenfalls eine Partnerin zweiter Klasse zu sein. Diese
Einschätzung speist sich nicht zuletzt auch aus einem ungewöhnlichen und aus
Sicht der Türkei unverdient langen und komplizierten EU-Beitrittsverfahren:
Die Türkei, schon seit 1949 Mitglied des Europarates und seit 1952 der NATO, ist
nach einer offiziellen Beitrittsbewerbung zur Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1959 bereits seit 1963 mit dem Vorläufer der EU
vertraglich assoziiert. 1987 folgte das offizielle Beitrittsgesuch zur
Europäischen Gemeinschaft (EG), obwohl die für davor versprochene Visumsfreiheit
für türkische StaatsbürgerInnen in die damalige EWU, maßgeblich durch die
Regierung Kohl, wieder einkassiert wurde (es sollte nicht das letzte Mal sein).
Der Beitritts-Antrag wurde 1989 abgelehnt. 1996 trat die Türkei als Schritt in
Richtung EU-Beitritt als erstes Land schon vor einer Mitgliedschaft der Zollunion bei,
was seither für das Land bedeutet, z.B. zahlreiche Einfuhr-Regelungen übernehmen
zu müssen, ohne in Brüssel über sie mitbestimmen zu können, und tlw. ohne
umgekehrt EU-Einfuhrprivilegien in Drittländern zu genießen. Mit steigendem
Abstand zum türkischen Militärputsch von 1980, und nicht zuletzt der
Unterstützung der damaligen rot-grünen Bundesregierung, wurde der Türkei 1999
offiziell der Status der EU-Beitrittskandidatin zugesprochen.
Auch in den darauffolgenden Jahren wurden (u.a. auch unter der seit 2002
regierenden AKP) mit Blick auf den EU-Beitrittsprozess wichtige Reform-
Fortschritte erzielt: Z.B. wurden die Frauenrechte im Zivilrecht gestärkt, die
Todesstrafe wurde abgeschafft, Folter verboten, die Versammlungs- und
Demonstrationsfreiheit gestärkt, dem UN-Friedensplan für Zypern zugestimmt (was
die EU nicht davon abgehalten hat, vorschnell nur seine griechische Hälfte als
Mitglied aufzunehmen), der Gebrauch der kurdischen Sprache legalisiert bzw.
gefördert, und das Strafrecht reformiert - auch wenn bei der praktischen
Umsetzung vieler dieser Vorhaben, z.B. im Bereich der Minderheitenrechte, noch
Hürden zu nehmen waren. Erst seit 2005, d.h. 46 Jahre nach dem Beitrittsantrag
in die EWG, und nach der letzten großen EU-Erweiterungsrunde, wird jedoch
überhaupt offiziell verhandelt. Und dabei musste die Türkei neben den von Ihr
selbst zu erfüllenden Beitrittskriterien auch eine bis dato einmalige,
zusätzliche „Prüfung der wirtschaftlichen und politischen Aufnahmefähigkeit“ der
EU, und somit höhere Hürden als jede andere Beitrittskandidatin, akzeptieren.
Der Beitritt, und auch die für ihn nötigen und in den folgenden Jahren weiter
verfolgten Veränderungen, genossen in der Türkei seinerzeit trotz dieser
widrigen Bedingungen laut Umfragen meist hohe öffentliche Unterstützung - was
sich jedoch zunehmend änderte, als führende konservative europäische
PolitikerInnen (allen voran Sarkozy und Merkel) mit zunehmendem Fortschritt der
Gespräche immer aggressiver (teils in der Tat noch vorhandene) Mängel anstatt
Fortschritten hervorhoben. Sie unterminierten einen EU-Beitritt der Türkei
systematisch, z.B. indem sie vermeintliche geographische EU-Mitgliedschafts-
Kriterien ins Spiel brachten, die Idee eines großen, überwiegend muslimischen
EU-Mitgliedslandes mehr oder minder offen in Frage stellten, die Angelegenheit
zum Wahlkampf-Thema machten, und statt eines Beitritts bestenfalls noch von
undefinierten Alternativen wie der sog. "privilegierten Partnerschaft" sprachen.
Währenddessen wurde mit anderen EU-BeitrittskandidatInnen, die in der
Wahrnehmung vieler TürkInnen an ihrem Land „vorbeizogen“ und Mitglied wurden,
oder auch mit nicht-Mitgliedern auf dem Balkan, die mittlerweile Visumsfreiheit
erhielten, vergleichsweise nachsichtig umgegangen.
All dies wurde in der Türkei (wie auch unter türkischstämmigen Menschen
hierzulande) sehr genau registriert. Es schien die lange gehegte Sorge weiter zu
bestätigen, eigentlich von vorneherein keine Chance auf einen EU-Beitritt zu
haben, was in der Folge die Zustimmungswerte für letzteren dramatisch sinken
ließ. Auch die Reform-Anstrengungen der AKP-Regierungen ließen nun Schritt für
Schritt nach, oder kehrten sich seither tlw. ins Gegenteil. Auf Europa muss
Präsident Erdoğan dabei immer weniger Rücksicht nehmen. Grund dafür ist nicht
nur die Tatsache, dass die EU sich zuletzt aus Unvermögen, eine mit ihren
eigenen proklamierten Werten konforme und solidarische Flüchtlingspolitik zu
verfolgen, von ihm abhängig gemacht hat. Es ist auch, und vor allem schon
länger, dass der öffentliche Glaube an eine Chance auf EU-Beitritt, und somit
ein mächtiges Argument für Reformen, angesichts fortlaufender Enttäuschungen und
der Wahrnehmung einer ungerechten Behandlung durch Brüssel, schlicht
abhandengekommen scheint.
Jüngste Äußerungen konservativer Europäischer PolitikerInnen, z.B. aus der
traditionell Türkei-skeptischen österreichischen Regierung, man müsse den
Beitrittsprozess nun abbrechen, wirken wie eine weitere Bestätigung dieser
Wahrnehmung. Im Ergebnis scheinen sich BeitrittsgegnerInnen in Europa und
autoritäre Kräfte in der Türkei darin eingerichtet zu haben, den Mangel an
Fortschritt in den Verhandlungen, jeweils allein der anderen Seite in die Schuhe
zu schieben. Das Ergebnis ist vorhersehbarer Stillstand bzw. für die türkische
wie auch europäische Gesellschaft(en) gefährlicher Rückschritt: Die türkische
Führung wird zunehmend unzugänglich für Kritik und koppelt das Land ab, zum Leid
gerade der vor Ort durchaus vorhandenen progressiven Bewegungen. Unterdessen
können in der EU erstarkende rechtspopulistische Kräfte mit der Auffassung, der
Islam gehöre nicht zu Europa, sich aus dem reichen Fundus der im Fall Türkei
jahrelang durch Sarkozy, Merkel & Co. Raum gegebenen Schein-Argumente bedienen.
Letztere drohen dabei von den pöbelnden Neulingen auch noch den Rang abgelaufen
zu kriegen, weil sie sich um den Flüchtlingspakt zu wahren auch mit berechtigter
Kritik an der türkischen Regierung zurückhalten. Hierbei droht uns allen ein
Teufelskreis, in dem sich Reaktionäre auf beide Seiten, letztlich auf Kosten der
Demokratie in der Türkei wie in Europa, jeweils mit internen Widersachern
überbieten und gegenseitig bestätigen.
Mit seiner Haltung ggü. Der Türkei bringt sich Europa schon lange in
Zwickmühlen, deren Ausgang meist nur die weitere Schwächung eigener
demokratischer Werte, Verstimmung in der Türkei, und letztlich oft sogar beides
bedeuten können. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist neben dem Flüchtlingsabkommen
selbst auch die Frage der Visafreiheit, die Präsident Erdoğan heute mit dem
Bestand des Abkommens, und morgen evtl. mit derzeit inhaltlich völlig
ungerechtfertigten Fortschritten im Beitrittsprozess verbinden könnte. Die
türkische Öffentlichkeit weiß er dabei hinter sich: Das Versprechen der
Visafreiheit wurde ihr ggü. von Europa in all den Jahren schon so oft gemacht
und wieder einkassiert (während sie umgekehrt schon lange für EU-BürgerInnen in
der Türkei gilt), dass sie selbst gegen das sehr handfeste Auftreten Erdoğans zu
ihrer Erreichung nun wenig einzuwenden haben dürfte. Das Dilemma: Hätte er zu
seinen Bedingungen Erfolg in dieser Frage, so wäre dies ein fatales Signal - Die
Visumsfreiheit selbst aber, und damit die Förderung des Austausches zwischen der
Türkei und Europa, wäre sowohl gesellschaftlich wie auch wirtschaftlich schon
lange ein wichtiges und dringend benötigtes Instrument der Annäherung gewesen.
Nun ist sie zum symbolisch aufgeladenen Zankapfel geworden, der den Menschen in
der Türkei entweder wie seit Jahrzehnten weiter vorenthalten wird, oder, falls
durchgesetzt, vom starken Mann Erdoğan als große Trophäe und Bestätigung seines
unnachgiebigen Kurses verkauft werden wird.
Kritik an türkischer Regierungspolitik ist möglich, und derzeit auch sehr nötig.
Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu positivem Wandel beiträgt,
anstatt kontraproduktiv nur Spannungen zu erhöhen viel höher, wenn die Menschen
in der Türkei den Eindruck haben, dass Europa dabei wirklich an ihnen, an
Ausgewogenheit, sowie an ihren eigenen, oft proklamierten demokratischen Werten
gelegen ist. Daher sollten wir auch mit eigenen, europäischen Verfehlungen offen
umgehen, sowie auch im eigenen Interesse alles tun, endlich echte,
ergebnisoffene Gespräche zu führen. Die Türkei ist eines der wichtigsten
Nachbarländer der EU, mit zahlreichen Verbindungen, wirtschaftlich und
kulturell, und nicht zuletzt über all die Menschen mit türkischen Wurzeln, die
auch in Deutschland leben. Konflikte in der Türkei werden zwangsläufig auch
immer uns nahe sein, weshalb wir ein großes eigenes Interesse an einer
demokratischen, rechtsstaatlichen Stabilisierung des Landes, wie sie ein
glaubhafter Beitrittsprozess befördert, haben.
Wir bilden uns zwar nicht ein, dass allein die Haltung der EU über den Zustand
der türkischen Demokratie entscheidet - jedoch kann sie stets ein wichtiger
Faktor sein. Denn ebenso gefährlich wie die Illusion dass die Türkei in ihrem
aktuellen Zustand schon demnächst EU-Mitglied werden kann, ist die Illusion dass
EU-Verhalten an den Entwicklungen vor Ort in den letzten Jahren völlig
unschuldig ist, bzw. dass der Türkei bisher ein fairer und komplett offener
Verhandlungsprozess zugestanden wurde. Deshalb: Stehen wir trotz des erwartbaren
Gegenwindes dafür ein, letzteren endlich wirklich zu wagen, bevor es zu spät
ist. Dies kann nicht annähernd so schädlich sein wie das aktuelle Abrutschen in
einen türkisch-europäischen Dauerkonflikt fortzusetzen, der auf beiden Seiten
nur die Rechtspopulisten stärkt. Selbst ein letztliches Scheitern der Gespräche
wäre nach einem ausdauernden, fairen und echten Versuch besser als unter
aktuellen Bedingungen: Wenn Präsident Erdoğan und die AKP, oder eine andere
türkische Regierung, auch für eine wirklich glaubwürdige und faire
Beitrittsperspektive nicht bereit sind die Bedingungen zu erfüllen, so sollen
sie dies wenigstens vor den Türkinnen und Türken selbst rechtfertigen müssen
anstatt weiter die Schuld auf ein unaufrichtiges oder gar fremdenfeindliches
Europa schieben zu können.
Gerade aus Solidarität mit der Türkei wollen wir – im Ton verständnisvoller für
ihre Erfahrungen, in der Sache aber klar - eben keine Abstriche bei den
demokratie- und menschenrechtsbezogenen Beitrittskriterien machen. Wenn es bei
den Verhandlungen keine Fortschritte gibt, gibt es keine Fortschritte. Dafür
muss man aber auch nicht offiziell Gespräche „aussetzen“ oder „einfrieren“. Vor
dem Hintergrund der aktuellen türkisch-europäischen Spannungen könnte eine
solche, ohnehin eher symbolische Geste leicht eine Dynamik in Gang setzen, die
Gräben vertieft und weitere Brüche nahelegen würde. In solch einem Klima wäre es
auch hierzulande kaum möglich, ausreichend Unterstützung für eine Wiederaufnahme
einmal abgebrochener Verhandlungen zu erhalten. Die Prophezeiung der Zweifler an
der Integration eines mehrheitlich muslimischen Landes in unser großes
europäisches Friedensprojekt könnte sich so vollends selbst erfüllen. Dies, und
all seine schrecklichen Implikationen für die Türkei, wie auch für den Charakter
der Europäischen Union und unser Zusammenleben in Deutschland, zu verhindern,
sehen wir zusammen mit unseren Freundinnen und Freunden vor Ort als unsere
große, gemeinsame Aufgabe. Packen wir sie an.
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